Anfassen erlaubt

Ertastet: Auf speziellen Führungen gewinnen Blinde einen Eindruck von der Erfurter Altstadt. | Bild: B. Neumann/ETMG; G. Priske
Ertastet: Auf speziellen Führungen gewinnen Blinde einen Eindruck von der Erfurter Altstadt. | Bild: B. Neumann/ETMG; G. Priske
Anja Kiewitt

Immer mehr Reiseregionen und Sehenswürdigkeiten halten für Menschen mit Sehbehinderungen spezielle Angebote und Führungen bereit. Die Arbeitsgemeinschaft Barrierefreie Reiseziele in Deutschland, in der sich neun deutsche Tourismusregionen und Städte zusammengeschlossen haben, stellt einige Urlaubs- und Freizeitideen für Blinde und Sehbehinderte vor. 

 

Ansichtskarten, Fotoalben, Social Media: Sehende arbeiten ihre Reisen praktisch ausschließlich visuell auf. Urlaub ist neben dem Hauptzweck Erholung das Sammeln schöner Bilder. Blinde und Menschen mit starker Sehbehinderung reisen völlig anders. An die Stelle der Betrachtung tritt das intensive Erfassen mit allen anderen Sinnen.
Immer mehr Reiseregionen und Sehenswürdigkeiten halten für diese Gästegruppe spezielle Angebote bereit. Die Arbeitsgemeinschaft (AG) Barrierefreie Reiseziele in Deutschland, unter deren Dach in Erfurt sich seit 2008 neun deutsche Urlaubsregionen und Städte zusammen geschlossen haben, stellt einige Reiseideen für Blinde und Sehbehinderte vor. Beispiel Erfurter Altstadt: Der historische Kern der thüringischen Landeshauptstadt ist seit dem Mittelalter fast vollständig erhalten geblieben. Die berühmte Krämerbrücke und die wertvollen Patrizierhäuser sind die Hauptattraktionen der Stadt. Auf speziellen Stadtführungen bekommen auch Blinde und Sehbehinderte einen Eindruck von der Pracht der Stadt. Ein Tastmodell vor dem Rathaus gewährt einen ersten Überblick.


Erfurt: Schatz in der Hand

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Im Erfurter Dom und der benachbarten Severikirche steht taktiles Material kostenfrei zur Verfügung, berichtet die AG. Zu den Höhepunkten Erfurts zählt die Alte Synagoge. Mit Mauerteilen aus dem späten 11. Jahrhundert ist es die älteste bis zum Dach erhaltene Synagoge Mitteleuropas. Bei Tastführungen können das jahrhundertealte Holz und die Steinwände des Gebäudes befühlt werden. Auch dürfen Besucher Replikate eines Schatzes, den ein Jude während der Verfolgung 1349 vergrub, in die Hand nehmen.
Barrierefreie Angebote gibt es auch im Lausitzer Seenland im Osten Deutschlands. Die Landschaft befindet sich derzeit im Wandel: Aus stillgelegten Tagebauen soll das größte von Menschenhand geschaffene Seengebiet Europas entstehen.
Blinde und sehbehinderte Menschen können sich bei einer geführten Tandemtour von ausgebildeten Fahrrad-Chauffeuren begleiten lassen. Auf der Fahrt über ebene Radwege schildern sie ihre Eindrücke von der Landschaft. Eine Blindenkarte am Senftenberger See vermittelt eine Vorstellung von Lage und Größe der Gewässer. Einen Abstecher lohnt das Museum Schloss und Festung Senftenberg, so die AG. Auf speziellen Tastführungen tauchen Besucher hier in die Geschichte ein. Erfühlt werden dabei etwa eine originale Festungskanone sowie auf Tonziegeln hinterlassene Handabdrücke der Erbauer der einstigen Burg. Und im Besucherbergwerk des Schlosses wird mittels ertastbarer Arbeitsgeräte, Fossilien und zutage geförderter Kohle die Bergbaugeschichte der Lausitz anschaulich.
Auf beeinträchtigte Menschen ausgerichtet hat sich auch das Ruppiner Seenland nördlich von Berlin, so die AG. Neben den idyllischen Naturlandschaften bestimmen hier die Schlösser und pittoresken Stadtkerne das Bild der Region. Berühmt ist Schloss Rheinsberg am Grienericksee, in dem Friedrich der Große seine glücklichsten Tage als Kronprinz verbrachte (siehe busplaner 12/2016, Seite 38).
Bei Tastführungen erhalten blinde und sehbehinderte Menschen mittels Stoffmustern, Muscheln und Schnitzereien eine Vorstellung vom Prunk der mit friderizianischem Rokoko-Dekor ausgestatteten Schlossräume. Eine Begleitperson wird aufgrund der historischen Bausubstanz empfohlen.
Über die alte Grafschaft Ruppin, die schon Theodor Fontane zum Schwärmen brachte, erzählt das Museum Neuruppin im gleichnamigen Ort. Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ sind an zwanzig Hörstationen im ganzen Haus präsent. Das Museum bietet eine Begleitperson, spezielle Führungen und taktiles Informationsmaterial.
Zum Fühlen, Lauschen, Schnuppern, Erforschen und Ausprobieren läd auch die interaktive Erlebnisausstellung „Wildnis(t)räume“ im neu eröffneten Nationalpark-Zentrum in Vogelsang bei Schleiden im Nationalpark Eifel ein. Das Museum ist nach AG-Angaben mit einem Blindenleitsystem ausgestattet. Informationen sind auch in haptischer oder Brailleschrift verfügbar. Hörführer stehen bereit. Im Fokus der Ausstellung stehen auf den zwei Etagen des Museums die weiten Hochflächen, tiefen Bachtäler, Schluchtwälder, die kleinflächigen Zwischenmoore und die seltenen Tier- und Pflanzenarten des Nationalparks.

 

Eifel: Nationalpark interaktiv

Vertiefungsmöglichkeiten dazu bieten die fünf Nationalpark-Tore an unterschiedlichen Orten der Eifel. Für blinde und sehbehinderte Menschen empfiehlt die AG drei besonders: In Simmerath-Rurberg stehen die Tiere der Eifel und ihre Lebensräume im Fokus. Nideggen zeigt den Nutzen der Schatzkammer Natur für die Wissenschaft. Und Monschau-Höfen widmet sich den für die Eifel typischen Narzissenwiesen.
Und auch am Romantischen Rhein sind Blinde willkommen: Hier verbinden sich Naturschönheiten mit Welterbestätten, Schlössern, Burgruinen und Wachtürmen. Für Blinde und Sehbehinderte legt ein Schiff zwischen Bonn und Linz zu der Tour „Rheinsinne“ ab. Ein Ortskundiger an Bord fasst die Rheinlandschaft in Worte und erzählt aus dem Sagenschatz der Region. Dazu gibt es Wein zum Kosten sowie Rheinkiesel und Trachytsteine zum Ertasten. Die Fahrt ist auf Anmeldung ab zehn Personen buchbar.
Zu den weiteren Höhepunkten im Mittelrheintal gehört das interaktive Museum „RömerWelt“ in Rheinbrohl, das vom einstigen Leben am Limes erzählt. Anfassen und Ausprobieren sind hier ebenfalls erlaubt.

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