Mobilitätsforscher warnt: „ÖPNV taugt nicht als Rückgrat der Verkehrswende“

Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und gleichzeitig Wissenschaftlicher Beirat des Bundesverbands eMobilität (BEM) sieht den öffentlichen Verkehr in seiner jetzigen Form nicht gewappnet für die Zukunft. In einem Gastbeitrag für Spiegel-Online fordert er ein radikales Umdenken.

Corona deckt die Schwächen auf: Trotz aller Bemühungen wie der MVG mit der Kombination eines Leih-Bike-Systems stagniert der ÖPNV im Modal Split und verlor in der Pandemie massiv an Marktanteil. | Foto: MVG
Corona deckt die Schwächen auf: Trotz aller Bemühungen wie der MVG mit der Kombination eines Leih-Bike-Systems stagniert der ÖPNV im Modal Split und verlor in der Pandemie massiv an Marktanteil. | Foto: MVG
Martina Weyh
(erschienen bei VISION mobility von Johannes Reichel)

Die Corona-Pandemie hat für den öffentlichen Nahverkehr gravierende Folgen. Unternehmen verzeichnen Fahrgastverluste von mehr als 80 Prozent. Nun soll ein Schutzschirm über Busse und Bahnen gespannt werden, der Bund stellt den Ländern im Konjunkturpaket rund 2,5 Milliarden Euro zum Ausgleich von Betriebsverlusten bereit. Für die Bahn gibt es sechs Milliarden Euro frisches Eigenkapital.

Das klingt wunderbar. Doch wird womöglich das Falsche gerettet?

Angesichts von Staus, Stress und steigenden CO2-Emissionen rufen viele Fachleute und Politiker nach einer Verkehrswende. Die Dominanz des privaten Autos soll zurückgefahren, Busse und Bahnen attraktiver werden. Diese Forderungen stehen seit Jahrzehnten auf der Agenda, doch in den vergangenen Jahren hat der Staat tatsächlich zusätzliche Milliardensummen in den öffentlichen Verkehr gesteckt, Fahrzeuge angeschafft, Streckennetze erweitert.

Seit Jahren verharren Bahn und ÖPNV beim Marktanteil

Doch Busse und Bahnen haben ihre Anteile am Verkehrsmarkt seit vielen Jahren nicht wirklich steigern können. Der Fernverkehr verharrt bei rund acht Prozent und der ÖPNV bleibt stabil unter zehn Prozent. Der öffentliche Verkehr wurde nur dort vermehrt genutzt, wo die Städte wuchsen. In kleineren Kommunen gehen die Fahrgastzahlen sogar zurück. Auf dem Land sind mehr als 90 Prozent der Fahrgäste Schüler und Auszubildende.

Rüge vom Rechnungshof: Förderstrategie verfehlt

In der vergangenen Woche sah sich der Europäische Rechnungshof genötigt, die bisherigen Förderstrategie für den öffentlichen Verkehr gerade auch in Deutschland zu rügen. Mit klaren Worten drückte die Behörde aus, was offensichtlich ist:

Es hat alles nichts gebracht, die Zahl der zugelassenen Autos steigt jedes Jahr um bis zu drei Prozent.

Mehr vom Gleichen scheint beim öffentlichen Verkehr nicht zu helfen. Selbst in Berlin, der Stadt mit einem sehr guten ÖPNV werden nur 28 Prozent der täglichen Wege mit Bussen und Bahnen unternommen. Dabei sind sich so gut wie alle einig. Die Zukunft der Mobilität kommt nicht ohne einen leistungsfähigen Verkehr mit Bussen und Bahnen aus. Großgefäße, die viele Menschen sehr effizient transportieren, sind für einen flüssigen Verkehr in den Ballungsräumen unerlässlich.

Doch jetzt kommt die Pandemie und deckt die Schwächen des ÖPNV gnadenlos auf. Wer die Wahl hat, favorisiert plötzlich doch wieder das Auto oder nutzt das Fahrrad, die Stammkunden zögern. Das Virus lässt individuellere Verkehrsmittel auf einmal deutlich attraktiver erscheinen.

ÖPNV ist häufig nur die zweitbeste Wahl

Das alles zeigt: Für viele Menschen ist der aktuelle ÖPNV im Zweifel verzichtbar oder die zweitbeste Wahl. Als Rückgrat für die Verkehrswende taugt er deshalb leider nicht. Busse und Bahnen waren wunderbare Dinge – vor der Erfindung des Autos. Außerhalb der großen Städte ist und bleibt der ÖPNV ein Angebot für die, die sich kein eigenes Fahrzeug leisten oder aus anderen Gründen nicht nutzen können. Ein ungeliebtes Kind der Autogesellschaft, dem keiner wirklich mit Herzblut begegnet. Busse und Bahnen werden in der deutschen Tradition der Daseinsvorsorge zwar mit beträchtlichem Aufwand betrieben, aber eben nur bereitgestellt. Kunden kommen in dieser Welt nicht vor, die öffentlichen Mittel fließen, egal wie viel Menschen den Dienst tatsächlich in Anspruch nehmen.

Keiner der Chefs der großen Nahverkehrsunternehmen, der selbst nicht Dienstwagen und privates Auto nutzt.

Der Kick zum Umdenken fehlt

Statt des dringend benötigten Wandels hin zu einem digital vernetzten Angebot ist Stückwerk zu besichtigen. Immerhin, die Hamburger Hochbahn versucht es mit "Switch", die BVG mit "Jelbi", doch kaum einer kennt oder nutzt diesen Service. Die Deutsche Bahn droht, das erfolgreiche Angebot CleverShuttle einzustellen.

Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) ist seit mehr als zehn Jahren dabei, eine App für alle Angebote zu realisieren und scheitert immer wieder am fehlenden Verständnis darüber, warum man das überhaupt braucht. Der Betriebsablauf wird dadurch nur gestört.

Vom On-Demand-Shuttle bis E-Scooter: Alles für den Wandel ist vorhanden

Die Verteidiger dieses Elends warnen bei jedem neuen Verleih- oder Poolingangebot vor angeblicher Kannibalisierung, es könnte eine Busfahrt ersetzt werden. Dabei ist alles für einen Wandel vorhanden: Die Digitalisierung ermöglicht überall in Deutschland Tür-zu-Tür-Verbindungen ohne Privatautos. Ein Klick aufs Smartphone und schon könnte ein Fahrzeug jemanden abholen und überall hinbringen.

Das Fahrzeug kann ein Auto sein, ein Fahrrad, ein Tretroller oder eben auch Busse und Bahnen - gemeinsam, vernetzt und digital zu einer einzigen Dienstleistung verschmolzen.

Doch dazu müsste die Organisation von Bussen und Bahnen völlig neu gedacht werden. Echter Kundennutzen ersetzt die Logik der Bereitstellung und orchestriert das Gesamtangebot zu einem einzigen Kunstwerk, in dem niemand mehr ein privates Auto braucht. Die Milliarden des Konjunkturprogramms könnten daher für einen völlig neuen ÖV wunderbar angelegt werden und sollten nicht zur Konservierung des Bestehenden führen.

Ausgerechnet ein CSU-Minister öffnet die Tür für digitale Angebote

Zum Glück kommt frischer Wind auf. Ausgerechnet das Bundesverkehrsministerium unter CSU-Mann Andreas Scheuer beschließt in dieser Woche Grundzüge einer Novelle für das Gesetz, das im öffentlichen Verkehr alles regelt und hinter die sich jeder beim Nichtstun bisher versteckt hat: Das Personenbeförderungsgesetz.

Digitale Angebote sollen erstmals zugelassen werden - es ist so, als ob nun Farbfernsehen erlaubt würde.

Die Kommunen können Poolingdienste mit Auflagen versehen, diese mit Bussen und Bahnen zu verbinden und den Verkehr als ein "Hub and Spoke"-Prinzip organisieren: Busse und Bahnen als Verbindung zwischen den Verkehrskontenpunkten ("Hubs") und Poolingdienste, Fahrräder, E-Autos, Scooter, Tretroller als Tür-zu-Tür Verbindung ("Spoke"), später ergänzt durch autonome Shuttles, die den Verkehr bequemer, sicherer und nachhaltiger machen. Es muss dann keiner mehr ein Auto besitzen oder selbst steuern. Kommt nicht, braucht keiner, geht nicht? Solche Einwände klingen allzu bekannt, als erste Reaktion auf Apple, Google, Facebook, Amazon oder Tesla.

Und dann kommt der Wandel doch schneller - aber von anderen und wir sind wieder nicht dabei.