Agora ÖV-Atlas 2023: Viel Luft nach oben bei den deutschen Öffis

Der öffentliche Personennahverkehr in Deutschland ist zu selten eine Alternative zum Auto das ist ein Fazit aus der Auswertung des Thinktanks Agora Verkehrswende. Untersucht wurde das Nahverkehrsangebot in Deutschland und seinen Nachbarländern. Die Schweiz und Luxemburg haben im Vergleich die Nase vorn.

Datengold: Auf Basis der DELFI (Durchgängige ELektronische FahrgastInformation) erstellte Agora Verkehrswende einen ÖV-Atlas, der Deutschland mit den Nachbarländern vergleicht. | Foto: DELFI
Datengold: Auf Basis der DELFI (Durchgängige ELektronische FahrgastInformation) erstellte Agora Verkehrswende einen ÖV-Atlas, der Deutschland mit den Nachbarländern vergleicht. | Foto: DELFI
Martina Weyh
(erschienen bei VISION mobility von Johannes Reichel)

Beim Angebot des öffentlichen Verkehrs (ÖV) liegt Deutschland im Vergleich mit mehreren Nachbarländern im Mittelfeld. Besonders in der Schweiz und in Luxemburg sind die Menschen besser an Bus und Bahn angebunden. Das zeigt der aktuelle ÖV-Atlas 2023, für den der Thinktank Agora Verkehrswende Fahrplandaten aus Deutschland, Dänemark, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Österreich und der Schweiz ausgewertet hat. Der Atlas stellt in einer interaktiven Karte dar, wie oft im Verhältnis zur Siedlungsfläche ein Bus oder eine Bahn abfährt. Die Zahl der Abfahrten in der nahen Umgebung ist nach Einschätzung von Agora Verkehrswende der wichtigste Faktor für eine häufige Nutzung des öffentlichen Verkehrs.

„Bus und Bahn werden erst dann attraktive Alternativen zum Auto, wenn auf Alltagswegen dicht getaktete und schnelle Linien zur Verfügung stehen.Unsere Auswertung zeigt, dass es dabei noch starke Unterschiede gibt: An vielen Orten Deutschlands ist das Angebot bereits gut und die Menschen können eher das Auto stehenlassen – gleichzeitig ist rund die Hälfte der Bevölkerung noch immer schlecht bis gar nicht an den öffentlichen Verkehr angebunden. Insbesondere die Schweiz zeigt mit einem flächendeckend guten Angebot, dass es auch anders geht. Unser ÖV-Atlas ist eine Bestandsaufnahme und schafft Vergleichbarkeit. Damit möchten wir Orientierung bieten in der Debatte über eine Mobilitätsgarantie durch verbindliche Qualitäts- und Angebotsstandards", erklärt Wiebke Zimmer, stellvertretende Direktorin von Agora Verkehrswende.

Schweiz, Brüssel und Luxemburg führen im Städtevergleich

An der Spitze der untersuchten Städte liegen Genf, Basel, Brüssel sowie die Stadt Luxemburg. Sie alle verzeichnen an einem durchschnittlichen Wochentag mehr als 3.700 Abfahrten von Bussen oder Bahnen pro besiedeltem Quadratkilometer. Das entspricht im Schnitt einem 3-Minuten-Takt tagsüber an allen Haltestellen der Stadt. Neben den genannten Städten haben weitere schweizerische Städte sowie die Hauptstädte Wien (3.343 Fahrten) und Kopenhagen (2.078 Fahrten) ein besonders gutes Nahverkehrsangebot. Unter den deutschen Großstädten schneidet Heidelberg mit 1.882 Fahrten pro Tag und Quadratkilometer am besten ab und liegt damit im Vergleich aller Städte aus den untersuchten Ländern mit über 100.000 Einwohnern auf Platz 17. Mit geringen Abständen folgen München, Stuttgart, Berlin und Bonn. Sie gehören in Deutschland zu den Spitzenreitern und bieten jeweils über 1.600 Fahrten pro Tag und Quadratkilometer, was im Durchschnitt einer Abfahrt alle sieben Minuten an allen Haltestellen im Tagesverkehr entspricht.

BaWü und Nordhessen mit gutem ÖV-Angebot

Unter den ländlicheren Regionen weisen in Deutschland weite Teile Baden-Württembergs sowie Nordhessen ein sehr gutes ÖV-Angebot auf. In vielen Teilen Deutschlands fährt in ländlichen Räumen allerdings seltener als alle zwei Stunden ein Bus. Hier sind die Menschen gänzlich auf die Nutzung eines Pkw angewiesen. Das bedeutet oftmals finanzielle Belastungen oder Einschränkungen der Mobilität und gesellschaftlichen Teilhabe – insbesondere ohne eigenes Auto oder Führerschein. Im Ländervergleich fällt bei ländlichen Regionen auf, dass die ÖV-Anbindung in Belgien, den Niederlanden und Dänemark außerhalb der Metropolräume durchschnittlich schlechter ist als in den anderen untersuchten Staaten. Positiv sticht auch hier die Schweiz heraus, die sogar in dünn besiedelten Gebieten oft Bus- oder Bahnverbindungen in Takten von 30 oder 15 Minuten gewährleistet.

Mobilitätswende nur mit starkem ÖV-Angebot

Neben der Auswertung der Fahrplandaten bildet die aktuelle Ausgabe des ÖV-Atlas erstmals auch die Anzahl der privat zugelassenen Pkw ab. Der Abgleich zeigt, dass ein niedriger Pkw-Bestand meist mit einem starken ÖV-Angebot zusammenfällt. Es gibt zwar Städte und Gemeinden, deren Bevölkerung trotz guten öffentlichen Verkehrs verhältnismäßig viele Autos besitzt, etwa in Luxemburg. Doch jede Stadt mit geringem Pkw-Bestand zeichnet sich auch durch ein starkes ÖV-Angebot aus.

„Viele Städte wollen den motorisierten Verkehr zugunsten von attraktiven Straßen und Plätzen, Lebensqualität, Gesundheit und Klimaschutz verringern. Das schaffen sie nur mit einer guten Anbindung durch Bus und Bahn“, meint Philipp Kosok, Projektleiter Öffentlicher Verkehr bei Agora Verkehrswende.

Datenverfügbarkeit wichtig für digitale Anwendungen und politische Entscheidungen

Der ÖV-Atlas stützt sich auf öffentlich zugängliche und standardisierte Fahrplandaten. Erfreulich ist aus Sicht von Agora Verkehrswende, dass sich die Verfügbarkeit und Qualität dieser Daten in den letzten Jahren verbessert hat. Der Thinktank möchte Verkehrsunternehmen und Aufgabenträgern weiter darin bestärken, die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um Fahrplandaten zur Verfügung zu stellen. Das sei von großem Wert für die Nutzer zum Beispiel bei Ticketkauf oder Fahrauskunft, aber auch für die Wissenschaft und eine sachliche Debatte zum öffentlichen Verkehr in Deutschland.

Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag viel vorgenommen

In ihrem Koalitionsvertag hat die Bundesregierung sich vorgenommen, verbindliche Standards für Qualität und Erreichbarkeit des öffentlichen Verkehrs zu schaffen – in der Schweiz, in Österreich und in einzelnen deutschen Bundesländern bereits als Mobilitätsgarantie bekannt. In einer Datenanalyse hat Agora Verkehrswende kürzlich errechnet, welchen Ausbau der ÖPNV in Deutschland für verschiedene Stufen einer bundesweiten Mobilitätsgarantie benötigte. Für das Szenario, einer großen Mehrheit der Bevölkerung mindestens einen Anschluss im Zweistundentakt zu gewährleisten, müssten demnach die gefahrenen Kilometer im Linienverkehr um 10 Prozent erhöht werden. Für einen Stundentakt, der von Verbraucher- und Branchenverbänden als Mindeststandard angesehen wird und etwa dem in der Schweiz üblichen Niveau entspricht, wäre eine Steigerung um 46 Prozent notwendig. Die Finanzielle Grundlage für eine Mobilitätsgarantie soll der ebenfalls im Koalitionsvertrag vorgesehene Zukunfts- und Modernisierungspakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen bilden. Ergebnisse zu dessen Ausgestaltung stehen weiterhin aus.