Auf dem Weg ins nächste Corona-Desaster?

Wie bringen wir so viele Menschen wie möglich dazu, sich impfen zu lassen?

Es ist von existenzieller Wichtigkeit, dass sich mindestens Dreiviertel der Bevölkerung gegen das Coronavirus impfen lassen. (Foto: Pixabay)
Es ist von existenzieller Wichtigkeit, dass sich mindestens Dreiviertel der Bevölkerung gegen das Coronavirus impfen lassen. (Foto: Pixabay)
Claus Bünnagel

Im Moment scheint es so, als schramme Deutschland mit einem blauen Auge, besser gesagt zwei blauen Augen und gebrochenem Kiefer, Joch- und Nasenbein gerade noch so an einer großen Corona-Inzidenz-Katastrophe vorbei – vor allem dank der nun anlaufenden Impfkampagne. Bald schon werden die Politiker vor allem in der Regierungskoalition vor lauter Schulterschmerzen kaum noch aufrecht gehen können – vom kräftigen gegenseitigen drauf Klopfen. „Okay, es ist vieles nicht so gut gelaufen, aber mit unseren Maßnahmen wie der Notbremse haben wir dann doch alles in den Griff bekommen!“ Vergessen sein könnte gleichzeitig das unnötige qualvolle Sterben von zehntausenden Menschen durch die nach wie vor fehlende Coronastrategie der deutschen Politik in den vergangenen 14 Monaten, vor allem im letzten halben Jahr.

Erfolgreich weggesperrt

Unangenehmes wurde schon immer in unserer Gesellschaft geschickt vor den Augen der Menschen verborgen. Hühner, Puten, Schweine und Rinder werden ebenso von der Öffentlichkeit in grausam-industriellen Großfabriken weggesperrt wie die osteuropäischen Arbeiter in den Schlachthöfen, wo das Vieh ebenso industriell getötet wird. Auch die Alten werden bei uns schon seit Jahrzehnten in Senioren- und Pflegeheimen erfolgreich outgesourct – mit der Folge, dass das dortige große Sterben während der Coronapandemie bei Teilen der Bevölkerung relativ unbemerkt blieb. Wer doch einmal einen Einblick in das Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen gewinnen will, dem empfehle ich unbedingt die mehrteilige rbb-Serie „Charité intensiv – Station 43“, jederzeit abrufbar in der ARD-Mediathek.

Das nächste Fehlverhalten der Politik winkt am Horizont

Und das nächste Puzzlestück im grandiosen Politikversagen während der Coronapandemie liegt schon bereit. Während die Politik vor lauter Glück jubiliert, dass die Impfkampagne nun mit täglichen Impfungen von 1 Mio., womöglich bald schon 3 Mio. Menschen doch noch in Fahrt kommt, vergisst sie gleich wieder einmal den nächsten Schritt. Denn in einigen Ländern der Welt, in denen die Impfkampagne schon recht weit fortgeschritten ist, kann man beobachten, wie sie mit ihrem Erfolg, nämlich abnehmenden Inzidenz- und Todesraten, an Fahrt verliert. 

Was ich hierzulande völlig vermisse, sind Überlegungen, wie man die impfunwilligen oder abwartenden Menschen fürs Impfen überzeugt. Die rund 5 % der Impfverweigerer wird wahrscheinlich keine Maßnahme erreichen. Aber das sind nur wenige Millionen Menschen, an denen die anvisierte Herdenimmunisierung von 75 und mehr Prozent der Bevölkerung nicht scheitern wird. Wir leben in einem freien Land, jedem ist überlassen, ob er während der nächsten Coronaherbst- oder -winterwelle an Covid-19 sterben möchte, wenn dann womöglich nach dem Wegfall der Maskenpflicht und anderer derzeitiger Maßnahmen die Krankheit in diesen Kreisen wieder aufflackert.

Impfbereitschaft wird sinken

Die Krux sind vielmehr die vielen Unentschlossenen und schlecht Informierten. Viele halten tatsächlich das minimale Risiko eines schweren Impfschadens für beträchtlich höher als eine Coronainfektion. Die – auch medial oft schlecht verarbeiteten – Probleme rund um den Impfstoff von AstraZeneca haben hier ihr Übriges getan. Ich prophezeie: Wenn die Inzidenzwerte und Covid-19-Todesfälle sinken werden, wird auch die Impfbereitschaft vieler im gleichen Maße zurückgehen nach dem Motto: „Geht doch schon, warum soll ich mich einem Impfrisiko aussetzen.“ Dem müsste die Politik mit einer medialen Impfkampagne schon bald entgegenwirken, am besten an jeder Litfaßsäule, an jeder Plakatwand, im Fernsehen, Internet und in Magazinen sowie Zeitungen. Den Menschen muss klar sein, wie wichtig es ist, dass so bald wie möglich ein maximal großer Anteil der (weltweiten) Bevölkerung – inklusive Kinder und Jugendliche – geimpft ist. Denn ansonsten steigt die Gefahr immens, dass sich Virusmutanten entwickeln, gegen die die aktuellen Impfstoffe nicht mehr wirken und wir uns in Folge dessen irgendwann in einer endlosen Coronapandemieschleife wiederfinden.

Belohnungsstrategie? Zum Scheitern verurteilt!

Wird eine solche mediale Impfkampagne nun in Deutschland vorbereitet? Davon habe ich bislang wenig gehört. Noch wichtiger wäre die Diskussion über eine Strategie im weiteren Impfprozess. Der „digitale Impfausweis“ soll künftig in der Corona-Warn-App integriert sein. Außerdem soll es ab Juli europaweit ein „Digitales grünes Zertifikat“ geben vergleichbar dem „Grünen Pass“ in Israel. Bleibt zu hoffen, dass beide nicht ebenso große Desaster werden wie die bisherige Corona-Warn-App oder die EU-Impfstoffbeschaffung im vergangenen Jahr. Denn ich halte einen digitalen Impfausweis für enorm wichtig. Warum?

Um den noch nicht geimpften Teil der Bevölkerung zu erreichen, versuchen es einige in der Impfkampagne schon weit fortgeschrittene Länder beispielsweise mit Impfbelohnungen. In den USA loben daher einzelne Unternehmen Impfprämien aus  – Lidl z.B. gibt 200 Dollar für alle geimpften Mitarbeiter, was die Impfquoten in solchen Unternehmen tatsächlich von ca. 50 auf über 75 % getrieben hat. Aber kann das tatsächlich der Weg sein, Menschen für eine Selbstverständlichkeit zu belohnen? Wer Kinder hat und meint, über Belohnsysteme deren schulische Leistungen zu verbessern, ist in der Regel damit gescheitert. Und was ist mit den Corona-Auffrischungsimpfungen in den nächsten Jahren, die mit Sicherheit notwendig werden? Will man die auf ihre Prämien wartenden Menschen dann wieder „belohnen“?

Über die Freiheit

Das wird nicht funktionieren. Ich halte deutlich mehr davon, das unsolidarische Fehlverhalten der Impfverweigerer oder -gleichgültigen zu sanktionieren. Hier wäre der hoffentlich bald umgesetzte fälschungssichere digitale Impfausweis das Schlüsselinstrument. Keine Pauschalreisebuchung ohne Impfnachweis, kein Kino- oder Disco-, kein Bundesligafußballspiel- oder Konzertbesuch in den nächsten Jahren, so lange das Coronaproblem akut ist. Jeder ist frei, sich nicht impfen zu lassen. Dann muss er aber auch mit den Folgen seiner gewählten, oft nicht auf wissenschaftlichen Fakten beruhenden Haltung leben. (Nur mal am Rande für alle Impfskeptiker: Statistisch dürfte die Gefahr fast genauso hoch sein, von einem Blitz getroffen zu werden wie einen Impfschaden zu erleiden. Ich rate Ihnen also, das Haus nicht mehr zu verlassen.)

Das hat auch nichts mit einem fehlverstandenen Freiheitsbegriff zu tun. Wir leben zum Glück in einem freien Land. Wer aber genau hinschaut, erkennt, dass Freiheiten auch schon bislang eingeschränkt werden, wo es nötig ist. Prinzipiell bin ich z.B. frei, mein Auto nach Herzenslust zu bewegen – solange ich mich an die Verkehrsregeln halte. Wenn nicht, ereilt mich die Konsequenz in Form eines Strafzettels oder mehr. Überall sorgen Gesetze für ein geregeltes Zusammenleben. Denn meine Freiheit hört da auf, wo die Freiheit und Sicherheit des anderen eingeschränkt werden. Das Gleiche muss in Sachen Impfen gelten: Wer sich nicht impft, schränkt die Freiheit und die Sicherheit aller anderen ein. Er muss also mit Konsequenzen rechnen und sie tragen, ein ganz natürlicher Vorgang. Der Gesetzgeber sollte dies beispielsweise in einer Novellierung des Infektionsschutzgesetzes berücksichtigen.

Lassen Sie uns kurz ins Grundgesetz, Art. 2, Absatz 2 schauen: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden." Interessanterweise sind sowohl die körperliche Unversehrtheit als auch die Unverletzlichkeit der Freiheitsrechte in einem Absatz geregelt. Beide Aspekte würde ja eine "Grüne-Pass-Regelung" tangieren. Und der Absatz sieht zudem vor, dass in diese Rechte per Gesetz eingegriffen werden kann. Also stände sie durchaus auf dem Boden des Grundgesetzes. Wenn man sich durchringt, dass in einer schwerwiegenden Krise wie der Coronapandemie die Gesundheit den Vorrang vor den persönlichen Freiheitsrechten haben soll. Ich wäre dafür, auch wenn mir ansonsten Freiheit das wohl wichtigste Gut im Leben ist. Aber harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen!

Und übrigens: Ich gehöre keiner Priorisierungsgruppe beim Impfen an. Und ich freue mich von ganzem Herzen, wenn die Menschen mit ihrer Impfung bereits wieder Freiheiten genießen könnten, die mir bis mindestens Sommer noch verwehrt bleiben. Gebt Ihnen die Freiheiten! Ich hole das später nach, ich freue mich schon darauf. Von ganzem Herzen! Besser spät als tot oder eine Coronapandemie für viele Jahre!

Aktualisierung vom 3.5.2021

Selbst ein so liberaler und dennoch in der Coronapolitik stringent und entschieden handelnder Staat wie Neuseeland fährt trotzt der großen Erfolge seiner Maßnahmen und kaum noch auftretenden Coronainfektionen eine knallharte Linie. Am 3. Mai meldet der britische "Guardian": "Neuseelands Zoll entlässt Personal, das Impfung verweigert". Und weiter: "Die neuseeländische Zollbehörde hat neun befristet beschäftigte Mitarbeiter vorzeitig entlassen, weil diese eine Impfung gegen Covid-19 verweigert haben. Damit setzte die Behörde eine Verordnung des neuseeländischen Gesundheitsministeriums um, nach der das Personal im Hochrisikobereich an der Grenze bis zum 1. Mai eine Impfung erhalten haben müsse. Ministerpräsidentin Jacinda Ardern hatte im Februar angekündigt, die Impfung nicht zur Pflicht machen zu wollen. Arbeitskräfte, die eine Impfung ablehnten, sollten allerdings versetzt und in weniger infektionsgefährdeten Positionen im Hintergrund eingesetzt werden. Für die betroffenen Mitarbeiter seien jedoch keine geeigneten neuen Aufgabenbereiche gefunden worden, erklärte die stellvertretende Personalchefin der Zollbehörde, Jacinda Funnell. Seit Anfang März habe man mit den Arbeitern darüber gesprochen, dass die Möglichkeiten einer Weiterbeschäftigung begrenzt seien. Mehrere neuseeländische Gewerkschaften hatten sich zuletzt gegen die Entlassungen ausgesprochen. 95 % der beim Zoll beschäftigen Neuseeländer sind erstgeimpft, 85 % haben auch ihre Zweitimpfung erhalten."

Weitere Aktualisierung vom 3. Mai. Der "Spiegel" schreibt: "In der Europäischen Union ist die Skepsis gegen eine Corona-Impfung einer Umfrage zufolge nach wie vor verbreitet. 33 % der EU-Bürger wollten sich weder so schnell wie möglich noch in diesem Jahr impfen lassen, sagte der Vertreter der EU-Kommission in Österreich, Martin Selmayr, am Montag in Wien. Damit drohe das Ziel einer Herdenimmunität in diesem Jahr verfehlt zu werden. In Deutschland sei der Anteil der Impfskeptiker etwas geringer als im EU-Durchschnitt, so Selmayr unter Berufung auf eine Umfrage unter 27.000 Bürgern, die im Auftrag der EU im Februar und März erhoben wurde." "Etwas geringer" ist in meinen Augen aber immer noch viel zu viel.