Deutschland, der kranke Mann in Europa

Hatte sich busplaner-Chefredakteur Claus Bünnagel vor einigen Tagen des Fehlverhaltens vieler Bürger in der Coronapandemie angenommen, so bekommt in diesem Meinungsbeitrag die Politik ihr Fett weg.

Lebt der Patient Deutschland noch? (Foto: unsplash.com)
Lebt der Patient Deutschland noch? (Foto: unsplash.com)
Claus Bünnagel

Achtung, die folgenden Zeilen sind mit ein klein wenig Ironie und Sarkasmus gewürzt und verkürzten ernste Vorgänge in einer recht flapsigen Darstellungsform! (Ich will Sie ja vorab gewarnt haben). Stellen wir uns das Szenario dem Impfstoffverhandlungen zwischen dem Staat Israel und dem Produzenten Biontech/Pfizer im Sommer 2020 vor. Israel: „Wieviel wollt Ihr pro Impfdosis haben?“ Biontech/Pfizer (Standardantwort bei allen potenziellen Kunden): „54,08 Euro!“ Israel: „Okay, bezahlen wir. Allerdings gibt es ein Problem: Ihr kennt doch die Basarszene aus Monty Pythons ,Das Leben des Brian‘! In unseren kulturellen Sphären des Vorderorients muss zwingend immer gefeilscht werden. Anders können wir das unseren Leuten nicht verkaufen.“ Biontech/Pfizer: „Okay, 30 Euro!“ Israel: „Aber nein, so geht das doch nicht! Euer Impfstoff ist doch mindestens 45 Euro wert.“ Biontech/Pfizer: „Dann 48 Euro!“ Israel: „Oh je, wir Armen, das ist doch Wucher!“ Biontech/Pfizer: „Können wir uns auf 44 Euro einigen?“ Israel: „Okay, prima, machen wir!“ Der Abschluss erfolgte nach basarüblicher fünfminütiger Verhandlungszeit. (Das glauben Sie mir so nicht? Okay, ist geschenkt. Der genannte Preis pro Impfdosis für Israel ist allerdings mittlerweile in den Medien durchgesickert).

Finden Sie die Verbindung!

Wir erinnern uns: Die Verhandlungen der EU mit Biontech/Pfizer zogen sich über Monate hin und ergaben am Ende einen Preis pro Impfdosis von 12 Euro. Aktueller Stand (18.3.) der Impfkampagne in Israel: 59,8 % der Bevölkerung einmal, 51,8 % vollständig geimpft. Deutschland: 8,5 % der Bevölkerung einmal, 3,8 % vollständig geimpft. Finden Sie die Verbindung zwischen Preis pro Impfdosis und Verlauf des Impfprozesses!

Wir rechnen durch: 9,5 Mio. israelische Einwohner (inklusive der Siedlungsgebiete im Westjordanland), macht 19 Mio. Impfdosen (gehen wir vereinfacht vom Biontech/Pfizer-Preis aus, Israel hat aber auch bei anderen Anbietern bestellt): Dafür müsste das Land rund 836 Mio. Euro berappen. Hätte man einen Preis von 12 Euro wie die EU ausgehandelt, wären es 228 Mio. Euro gewesen. Von einigen ultraorthodoxen Unbelehrbaren mal abgesehen wird bis Ende April, wenn die EU-Impfkampagne erst langsam an Fahrt aufnimmt, fast die gesamte israelische Bevölkerung durchgeimpft sein. Dadurch spart das Land Milliarden, dann spricht längst niemand mehr von den Impfmehrkosten von im Vergleich lächerlichen 600 Mio. Euro.

Der Kunde ist König

Natürlich beliefert man seine besten Kunden zuerst, das dürfte im Hause Biontech/Pfizer kaum anders gehandhabt werden. Es wundert angesichts dieser Tatsache auch nicht, dass zahlungskräftige Staaten wie Bahrain oder die Vereinigten Arabischen Emirate bei ihren Impfkampagnen weltweit in der Spitzengruppe liegen. Weniger solvente, aber ebenso intelligente und weitblickende Regierungen wie in Israel haben gleich bei allen potenziellen Impfstofflieferanten geordert, z.B. Chile: Das Land bestellte bei Biontech/Pfizer ebenso wie bei Moderne, AstraZeneca, Johnson & Johnson, Sanofi/GSK und Curevac – und ohne ideologische Scheuklappen auch Sputnik V aus Russland und Sinovac aus China. Letzterer Impfstoff ist vielleicht nicht so wirksam wie die mRNA- und Vektor-Impfstoffe aus westlicher und russischer Produktion, soll aber ebenso zuverlässig gegen schwere Krankheitsverläufe helfen. Und das ist schließlich die wichtigste Messgröße – nicht der Inzidenzwert. Chile hat für sein Land in etwa doppelt so viel Impfstoff wie nötig bestellt. Probleme sieht die Regierung in diesem Vorgehen nicht – Abnehmer für überschüssigen Impfstoff ständen schließlich Schlange. Der Vollständigkeit halber: aktueller Stand (18.3.) der Impfkampagne in Chile – 28,4 % der Bevölkerung einmal, 14,1 % vollständig geimpft. Dort impft man z.B. ganz ohne umständliche bürokratische Prozesse: An einem Tag sind die 65-Jährigen an der Reihe, an einem anderen Tag das ärztliche Personal, wiederum am nächsten die chronisch Kranken, dann vielleicht die 62-Jährigen usw. – wie es der Verlauf der Pandemie als nächstes sinnvoll erscheinen lässt. Und es klappt im Großen und Ganzen völlig reibungslos. 

Endlich aufgewacht?

Gerade heute (19.3.) kommen Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) übrigens auf die Idee, auch Sputnik V bestellen zu wollen. Guten Morgen! Endlich aufgewacht? Allerdings gibt es noch keine Zulassung in der EU. Das wurde ebenso versäumt wie die Produktion bei R-Pharm im bayerisch-schwäbischen Illertissen, die gerade „angedacht“ wird. „Auf Sicht fahren“ ist echt eine prima Strategie in einer Pandemie und bei einer Impfstoffproduktion, die Vorläufe von Monaten, teilweise sogar Jahren benötigt. Selbst die unter Trump vielgescholtene USA agierte weitsichtiger und erfolgreicher als die EU. Das Ziel von Präsident Biden, in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit mindestens 100 Mio. US-Bürger zu impfen, wurde bereits nach 58 Tagen erreicht. Die Quote hier zum 18.3.: 22,6 % der Bevölkerung einmal, 12,3 % vollständig geimpft. Aktuell werden hier mehr als 3 Mio. Menschen am Tag geimpft, so dass die USA wahrscheinlich noch weit vor dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli ihre Impfkampagne abgeschlossen haben dürfte.

Und tschüss!

Für das Komplettversagen der Impfkampagne in Europa kann es nur eine Konsequenz geben: Der oder die Verantwortliche muss den Hut nehmen. Und das ist in dem Fall Frau von der Leyen, die sich auf diversen Posten in Deutschland ja schon nicht mit Ruhm bekleckert hat und meist verbrannte Erde hinterließ. In ihrem typischen Reflex hat UVDL zwar die Schuld noch auf die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides abwälzen wollen, eine ähnliche Fehlbesetzung im Amt. Bekannt ist aber, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission die Impfstoffbeschaffung schon früh zur Chefsache gemacht hat und dementsprechend das Debakel auch alleine zu verantworten hat.

Deutschland ist spitze!

Das EU-Chaos wird aber vom Geschehen in Deutschland noch locker getoppt. Nach dem Glück in der ersten Coronawelle sind anschließend eigentlich nur noch Fehlentscheidungen getroffen worden. Es gab keine Strategie, noch nicht einmal irgendeinen Plan, wie man dem Jahrhundertproblem begegnet. Gleichzeitig hat die Pademie gnadenlos die verkrusteten Strukturen bei Föderalismus, Verwaltung und Krisenmanagement bloßgelegt. Das alles haben Sie ja selber am eigenen Leib erlebt, ich erspare mir hier seitenlange Ausführungen. Nur zwei kurze Fragen dazu: Hören die Politiker eigentlich noch auf ihre beratenden Experten? Oder lesen sie wenigstens relevante Medien? Am 6. Februar 2021 erschien im Spiegel Nr. 6/21 ein Interview unter dem Titel „Der Wettlauf ist längst verloren. Es wird kommen wie in England“ mit der Virologin Melanie Brinkmann. Sie ist nicht irgendeine Expertin, sondern gehörte zum wissenschaftlichen Beraterstab für Kanzlerin Angela Merkel sowie die Ministerpräsidenten und verfasst Positionspapiere zur Eindämmung der Seuche. Im Interview sprach sie darüber, dass der Kampf gegen die Virusmutanten verloren und die dritte Welle ohne entsprechende Maßnahmen nicht zu verhindern sei – und schlug einige Lösungen vor. Was machte die Politik stattdessen: Sie fuhr einige Wochen nach diesen Äußerungen Öffnungsstrategien ohne Vorsichtmaßnahmen – sogar noch bis heute. Wer mir das erklären kann, kann dies gerne per Mail an meine Adresse  claus.buennagel@hussverlag.de tun – ich wäre sehr dankbar. Ich hab’s noch nicht so richtig verstanden. 

Jetzt also dann bald wieder zurück in einen Lockdown, vielleicht den schärfsten bislang. Das könnte die Stimmung in Deutschland endgültig zum Siedepunkt bringen, wenn man gleichzeitig in den Nachrichten die Bilder von Millionen feiernder Israelis und US-Amerikanern an den Stränden des Mittelmeers respektive von Kalifornien und Mexiko sehen kann. Das ist ungefähr so als würde man hierzulande, wo das Auto götzenhaft verehrt wird, zur gleichen Zeit einen Verbrennerstopp und ein 130-km-Tempolimit auf deutschen Autobahnen verkünden.

Spitze des Eisbergs

Im Grunde genommen ist die ganze Pandemiepleite in Deutschland nur die Spitze des Eisbergs. Man kann gegen den Russland-Liebhaber Gerhard Schröder sagen, was man will. Aber seine Kanzlerschaft von 1998 bis 2005 war die letzte Zeit in Deuschland, in der strukturierte Politik mit Zukunftsvisionen und Reformen betrieben wurde, die in disruptiven Zeiten wie den gegenwärtigen klare Handlungslinien gesetzt hat. EEG-Gesetz, Atomausstieg und Hartz-IV-Gesetzgebung haben damalige sowie zukünftige Problemfelder im Blick gehabt und positive Entwicklungen im Land angestoßen. Es folgten 16 Merkel-Jahre, in der das Land zwar relativ geschickt durch Finanz- und Eurokrise laviert wurde. Aber diese Entwicklung verstärkte den ohnehin grassierenden Hang zur Selbstzufriedenheit noch, der sich bleiern wie ein schwerer Schleier über das Land legte. Deutsche Autos sind die besten! Sollen die anderen doch auch mal beim Umweltschutz vortreten, da sind wir die Weltmeister! Und und und.

Die wenigsten haben unter diesem Schleier mitbekommen, wie Deutschland Stück für Stück an Boden verloren hat, gerade auf den Technologiefeldern der Zukunft. Bei der digitalen Entwicklung sind wir nur noch weltweites Mittelmaß, ergo also eines der Schlusslichter unter den Industriestaaten der Welt. Peter Altmaier hat als Umwelt- bzw. Wirtschaftsminister quasi im Alleingang – bzw. zusammen mit allen zuständigen Lobbyisten dieser Republik – die Energiewende in Deutschland gestoppt. Die CSU-Bundesverkehrsminister Ramsauer, Dobrindt und Scheuer haben dafür gesorgt, dass die Verkehrswende in Deutschland sich erst gar nicht entfaltet hat.

Der kranke Mann

Viele Experten und fachlich versierte Journalisten warnen seit Jahren, dass eine der wenigen verbliebenen Schlüsseltechnologien in Deutschland, nämlich die Autoindustrie, den Zug Richtung Zukunft verpasst. Heute geben Tesla sowie chinesische Batterie- und Autobauer den Takt vor, die deutschen Konzerne hecheln mühevoll hinterher. Dabei stand die heimische Branche im Sommer 2015, quasi am Vorabend des Dieselskandals, noch auf dem Zenit – ein echter Kodak- und Nokia-Moment. Früher schon schrieb auch ich wie viele Kollegen, dass die Autobranche den Trend zur Elektromobilität ernst nehmen sollte. Noch früher schrieb ich bereits, dass es chinesische Buskonzerne nach einigen verunglückten Anläufen mit Reisebussen nie ernsthaft in Europa schaffen würden, wenn nicht über elektrische Stadtbusse. Heute ist BYD größter Player auf diesem Feld. Ich bin für meine Ansichten angefeindet und verlacht worden. Bald lacht niemand mehr!

Und ich prophezeie heute: Wenn Deutschland nicht in den nächsten zwei Jahren die Kurve mit vielen Reformen und Programmen schafft, dann ist das Land spätestens 2030 wieder der kranke Mann in Europa – das Bild passt ja gut angesichts der Coronapandemie –, so wie es dies bereits einmal um die Jahrtausendwende war. Erinnern Sie sich, wenn es soweit ist, einmal an meine Worte!

Traue ich inmitten disruptiver Explosionen auf vielen Technologie- und Gesellschaftsfeldern einer konservativ geführten Regierung einen Kursschwenk zu? Klare Antwort: nein.