Deutscher Pavillon auf der Biennale Venedig eröffnet

Auf der 60. Internationalen Kunstausstellung „La Biennale di Venezia“ wurde der Deutsche Pavillon eröffnet. Orte wie die Biennale in Venedig bieten vom 20. April bis zum 24. November 2024 die Möglichkeit, künstlerische Perspektiven auf internationale Entwicklungen zu würdigen.

Der Deutsche Pavillon auf der Kunstbiennale Venedig 2024 (Screenshot/Foto: picture alliance/dpa/ Felix Hörhager)
Der Deutsche Pavillon auf der Kunstbiennale Venedig 2024 (Screenshot/Foto: picture alliance/dpa/ Felix Hörhager)
Franziska Neuner

Çagla Ilk, die Co-Direktorin der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, verantwortet 2024 den Deutschen Pavillon bei der Kunst-Biennale in Venedig.

„Durch ihre transdisziplinäre Methode wird Çagla Ilk mit ‚Thresholds/Schwellenräume‘ in Venedig einen außergewöhnlichen Beitrag für die diesjährige Biennale leisten. Die von ihr ausgewählten Künstlerinnen und Künstler, insbesondere Yael Bartana und Ersan Mondtag, befassen sich auf eindrückliche Weise performativ wie bildnerisch mit Themen wie Migration und kollektives Gedächtnis, Umweltzerstörung, aber auch Aufbruch und Hoffnung“, sagte Baden-Württembergs Kunstministerin Petra Olschowski.

Künstlerische Perspektiven auf internationale Entwicklungen würdigen

Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit denen sich die Kulturlandschaft im Allgemeinen und die Biennale im Besonderen nach dem 7. Oktober 2023 konfrontiert sieht, sagte Petra Olschowski Orte wie die Biennale in Venedig böten die Möglichkeit, die Themen zu diskutieren, die Künstlerinnen und Künstler weltweit aktuell beschäftigen, und künstlerische Perspektiven auf internationale Entwicklungen zu würdigen. Es sei von zentraler Bedeutung, dass man solche Freiräume eröffne und gleichzeitig sicherstelle, dass Respekt und Schutz von Gruppen und Einzelnen gewährleistet ist.

Çagla Ilk leitet seit 2020 mit Misal Adnan Yildiz die Kunsthalle in Baden-Baden. Zuvor war sie von 2012 an Dramaturgin und Kuratorin am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Die Kuratorin und Architektin wurde in Istanbul geboren, sie studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin und an der Mimar Sinan Universität Istanbul. Ihre Arbeit wird als transdisziplinär zwischen Bildender Kunst, Architektur, Sound, Theater und Performance beschrieben.

Pavillon mit spartenübergreifende Konzept

Dass Çagla Ilk als Kuratorin des Deutschen Pavillon ausgewählt wurde, würdigt in besonderer Weise ihre bisherige Arbeit. Yael Bartana und Ersan Mondtag präsentieren ihre Arbeiten im Deutschen Pavillon. Erweitert wird „Thresholds“ mit künstlerischen Installationen von Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner auf der Insel La Certosa vor Venedig. Dieses spartenübergreifende Konzept von Çagla Ilk wird erstmals auch eine Verbindung zwischen dem Deutschen Pavillon und der Insel schaffen.

Deutscher Beitrag: Alternative Lesarten von Geschichte und Zukunft

Für den deutschen Beitrag zur 60. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia hat die Kuratorin Çağla Ilk die Künstler:innen Michael Akstaller, Yael Bartana, Robert Lippok, Ersan Mondtag, Nicole L’Huillier und Jan St. Werner eingeladen, unter dem Titel Thresholds den Umgang mit Schwellen, Stufen und Grenzen zu suchen. Der Beitrag widmet sich ausgehend von der Gegenwart alternativen Lesarten von Geschichte und Zukunft und entwirft Erfahrungsräume von der Schwelle aus.

Erstmals bewegt sich die Ausstellung des Deutschen Pavillons für die gesamte Ausstellungsdauer über die Grenzen des Pavillongebäudes in den Giardini della Biennale hinaus zu einem weiteren Standort: der benachbarten Insel La Certosa. Yael Bartana und Ersan Mondtag präsentieren ihre Arbeiten im Gebäude des Pavillons. Auf La Certosa erfährt der Gedanke der Schwelle mit den Beiträgen von Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner eine Erweiterung. Thresholds sind Schwellenräume, die einer paradoxen Ordnung des Dazwischen unterliegen. Sie führen von einem Ort zum nächsten und sind räumliche, aber auch zeitliche Bindeglieder. Die kuratorische Methode für den Beitrag besteht in der Verknüpfung unterschiedlicher künstlerischer Ansätze und Disziplinen innerhalb eines übergeordneten und pluralistischen Storytellings. Ausgehend von der Gegenwart als Schwelle, als Übergang, in dem sich Vergangenheit und Zukunft überlagern, befassen sich die künstlerischen Beiträge ebenso mit dem Motiv der Schwelle als Ort zwischen Zugehörigkeiten und den Gemeinschaften, die diesen Bedeutungsraum prägen. Das Konzept wird durch das Denken von Georgi Gospodinov und Louis Chude-Sokei inspiriert, die als Chronisten den deutschen Beitrag im aktiven Austausch begleiten.

Die künstlerischen Arbeiten in einem trotzigen Pavillon

Der faschistischen, auf Ewigkeit ausgerichteten Architektur des Pavillons setzt Ersan Mondtag ein Monument eines unbekannten Menschen entgegen. In dessen gedanklichem Zentrum steht die Frage nach dem kollektiven Gedächtnis. Ein zentrales Motiv des “Monuments” ist Erde: Als umkämpftes Objekt territorialer Konflikte und Auseinandersetzungen, als Ort der Toten und Geister versetzt Mondtag Erde symbolisch aus Anatolien in den Deutschen Pavillon. Inmitten einer archäologisch anmutenden Lebenslandschaft macht Mondtag gemeinsam mit fünf Performern die Fragmente einer Biografie erfahrbar: Arbeitswelt, Fabrik, Wohnraum und öffentlicher Raum.

Mondtags Bezugspunkt ist die Geschichte seines Großvaters Hasan Aygün, der in den 1960er Jahren aus Mittelanatolien nach Westberlin kam, sich dort durch die Arbeit in den Fabriken der Asbest-Firma Eternit eine Existenz aufbaute und an den Folgen dieser Arbeit starb. Durch einen Parkettboden, den Mondtag aus einem verlassenen brandenburgischen Kulturhaus nach Venedig überführt hat, kreuzt er die postmigrantische Geschichte mit vergessenen Biografien der arbeiterlichen Gesellschaft der DDR. Indem Mondtag Motive migrantischer und ostdeutscher Biografien ins Zentrum des Pavillons rückt, stellt er die Frage nach postheroischer Geschichtsschreibung, Repräsentation und Erzählung auf der Schwelle zu einer Industriefolgelandschaft.

Gegenwärtige Realität des Planeten Erde in der Kunst

Mit ihrer fortlaufenden Arbeit Light to the Nations nähert sich Yael Bartana einer Schwelle in Raum und Zeit: der gegenwärtigen Realität des Planeten Erde am Rande der ökologischen und politischen Zerstörung. In einem Akt der Erlösung bringt ein von der Künstlerin konzipiertes und nach einer Passage aus dem Buch Jesaja benanntes Raumschiff mehrere Generationen Menschen zu unbekannten Galaxien. Diese große Reise mit offenem Ausgang dient der kollektiven Heilung und greift utopische wie auch dystopische Elemente gleichermaßen auf. Mit ihrem Beitrag, zu dem auch die neu choreografierte Videoarbeit Farewell gehört, erweitert Bartana ihr über Jahrzehnte entwickeltes Werk, das Gruppenrituale und -zeremonien und die sie umgebenden sozialen Bewegungen erforscht und neu interpretiert.

Bartana überlagert in Light to the Nations spekulative Technologien mit den jüdischen mystischen Lehren der Kabbala und lässt das Raumschiff zu einem Medium der Erlösung werden. Ohne die sie zerstörende Menschheit kann sich einerseits die Erde erholen, andererseits besteht auf dem Schiff die Möglichkeit, dass neue Gesellschaftsformen jenseits territorialer Beschränkungen entstehen. Light to the Nations fußt auf jüdischen Traditionen, überschreitet aber als umfassendes Vorhaben religiöse, ethnische, nationale und staatliche Grenzen. Es bietet der gesamten Menschheit eine Zukunft, die der Gravitationskraft des Planeten und der menschlichen Suche nach Zugehörigkeit trotzt. Mit ihrer Methode des „Pre-Enactment“ verortet Yael Bartana Light to the Nations sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft und lässt die Besucher:innen des Deutschen Pavillons in der Ungewissheit vergessener Hoffnungen.

Eine Insel als Ort der Umkehr traditioneller Erzählformen

Mit dem Brückenschlag von dem monumentalen und historisch belasteten Gebäude des Deutschen Pavillons zur Insel La Certosa wagen Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner eine Umkehrung traditioneller Erzählformen. Eine Insel mit fließenden Grenzen wird zum Ort, an dem über Grenzen nachgedacht wird. Die Beiträge der Künstler, die hier arbeiten, fordern unser Bewusstsein für die Gegenwart und die uns umgebende Natur und eröffnen klangliche Erfahrungsräume. Die Vision einer gemeinsamen Zukunft fängt dort an, wo wir lernen, unserer fragilen und verwundeten Umwelt, uns selbst und einander zuzuhören. Die Bewegung aus dem Pavillon verursacht in dieser Hinsicht eine Resonanz, die von La Certosa in Richtung Pavillon zurückfließt, wodurch der Schritt heraus gleichzeitig zu einem Schritt hinein wird. La Certosa ist jederzeit für alle Besuchenden sowie für die Venezianer öffentlich zugänglich.

Klänge der Insel

Als eine Art Prelude für den deutschen Beitrag auf La Certosa begleitet die Stimme von Louis Chude-Sokei die Besucher beim Betreten der Insel. Seine Klangintervention Thresholds wird beim Überschreiten der Schwelle vom Steg zur Insel zu hören sein.

In seiner Arbeit Scattered by the Trees untersucht Michael Akstaller, inwieweit Klang sich innerhalb bestimmter Ökosysteme ausbreitet und wie Bäume und Wälder die Parameter für unsere Wahrnehmung von Klang mitbestimmen. Akstallers Klanginstallation arbeitet mit dem System der Natur auf La Certosa, ohne es zu imitieren.

Ambiguität, Zugehörigkeit und Codes der Kommunikation sind grundlegend für die Arbeiten von Nicole L’Huillier. Für ihre Installation Encuentros hat sie ein Sender-Empfänger-System entwickelt, das die Klänge der Insel in variierende Frequenzen übersetzt. Dadurch vermischen sich künstliche und natürliche Sounds und werden zu einem Klangraum. Die von ihr konzipierten klangsensiblen Membrane bewohnen die Insel und treten in Kommunikation mit der Umwelt von La Certosa. In ihrer Funktion als Empfänger nehmen sie die Klänge ihrer Umgebung auf und aktivieren somit ein Klangsystem, das auf der wechselseitigen Beziehung des Sendens und Empfangens beruht. Dieser Austausch von natürlichen und elektronisch erzeugten Klängen führt zu einer Verwischung von Grenzen.

Robert Lippok installiert in seiner Arbeit Feld zahlreiche Subwoofer in der Erde von La Certosa. In Dreieckskonstellationen angeordnet, öffnet seine Soundlandschaft den Boden unter den Füßen wie ein Fenster in die Vergangenheit der Insel und spielt mit der Wahrnehmung der Zuhörenden. Seine Arbeit ist ein Verstärker der Schichten, die unter dem Gras verborgen liegen. Lippok öffnet ein bebendes Feld der Transitionen und kreiert einen klanglichen Schwellenraum.

Jan St. Werner hat mit Volumes Inverted ein Lautsprecherinstrument speziell für die Klosterruine auf La Certosa entwickelt. Im Dialog mit einem weiteren Lautsprecher, der von der Lagune aus einen gebündelten Schallstrahl über mehrere hundert Meter zurück auf die Insel wirft, entstehen zwei ineinandergreifende Klangsituationen: die Aktivierung des Klosterinneren zum einen und ein sich auf die Insel verbreitender Schallstrahl zum anderen. Diese Dualität hinterfragt die eigene Verortung und regt einen Austausch mit der Insel und der sie umgebenden Lagune an