Drei Megathemen dürften die Entwicklung des ÖPNV in Deutschland in den kommenden Jahren bestimmen. Da ist zunächst die elektromobile Transformation der Fuhrparks zu nennen, die bei großen Verkehrsunternehmen wie BVG, KVB, MVG oder Hochbahn bereits weit fortgeschritten und nun auch in der Breite angekommen ist. Das zweite große Unterfangen betrifft die Umstellung bisheriger Linienverkehre auf On-demand-Lösungen (siehe dazu unseren Beitrag auf S. 42/43), vor allem auf dem Land. Über diesen beiden zentralen Themen schwebt aber als Damoklesschwert der sich in den nächsten Jahren mehr und mehr verschärfende Personalmangel vor allem im Fahrdienst, der viele zukunftsweisende Entwicklungen torpedieren könnte.
Wer beim VDV-Personalkongress Mitte September in Bonn war und zuvor über Jahre die VDV-E-Bus-Konferenzen in Berlin erlebt hat, den überkam womöglich ein eigenartiges Déjà-vu-Gefühl: Es gibt eine Reihe von interessanten und klugen Ansätzen sowie erste vielversprechende Projekte, aber das Unterfangen ist so komplex, dass man noch mitunter hilflos im Dunkeln stochert und sich über gangbare Wege noch nicht im Klaren ist. Nun, die mühevolle, aber intensive Beschäftigung der Verkehrsunternehmen – auch und gerade auf ihren Branchenveranstaltungen – mit der Umsetzung der elektromobilen Antriebswende in ihren Fuhrparks ist schließlich in brauchbare Resultate gemündet. Die Entwicklung in den nächsten Jahren zu technisch und vor allem wirtschaftlich tragfähigen Lösungen mit batterieelektrischen Stadt- und Überlandbussen ist klar vorgezeichnet. Warum nun soll ein solcher intensiver Prozess nicht auch im Personalwesen angestoßen werden können?
Die Bestandsaufnahme
Die mitunter erschreckenden Zahlen sind bekannt: Laut der aktuellen „VDV-Branchenumfrage Personal“ fehlen bundesweit heute schon ca. 8.000 Fahrer im ÖPNV/SPNV pro Jahr. Als Folge fallen schon jetzt eine erhebliche Anzahl von Fahrten im Liniendienst aus. Doch die Lage wird sich noch erheblich verschärfen: Der VDV erwartet alleine rund 87.000 fehlende Busfahrer bis 2030.
Das Personalproblem teilt die ÖPNV-Branche übrigens mit anderen Sparten im öffentlichen Dienst. Betrug dort die Fachkräftelücke im Jahr 2022 rund 359.000 Menschen, wird sie laut Dr. Julian Kirchherr (Foto) von der Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey & Company 2030 bei ca. 836.000 Personen liegen, ein Plus von 133 % und noch einmal 15 % oder gut 100.000 fehlende Fachkräfte mehr als noch in der 2019er-Studie von McKinsey prognostiziert. Darunter werden rund 110.000 nicht besetzte Stellen bei Bussen und Bahnen vorausgesagt. Der Grund ist vor allem die sich erhöhende Renteneintrittszahlen. 50 % der derzeitigen Mitarbeiter im ÖPV gehen bis 2030 in den Ruhestand, sie entstammen vorwiegend der Baby-Boomer-Generation der 1960er-Jahren mit damals steigenden Geburtenzahlen infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg. Typisches Beispiel: 52 % der 140 Mitarbeiter bei Aktiv Bus Flensburg werden bis 2030 ausgetauscht werden müssen, legte Geschäftsführer Paul Hemkentokrax dar.
Wie das dann konkret aussieht, darüber berichtete Sachgebietsleiterin Ausbildung Carina Holthoff von den gastgebenden Stadtwerken Bonn (SWB) auf dem VDV-Personalkongress. Während bis 2026 die Renteneintritte bei den SWB noch in etwa durch erhöhte Bemühungen im Bereich der Azubinachbesetzungen ausgeglichen werden können, dürfte das ab diesem Zeitpunkt nicht mehr reichen: Die Lücke klafft deutlich auseinander. Ablesen können die SWB die Abwärtsspirale im Personalwesen auch an einer anderen Kennzahl, die Brigitte Klein, Fachbereichsleiterin Personal- und Kulturentwicklung, nannte. Von 2018 bis 2023 ist die Betriebszugehörigkeitsdauer ihrer Mitarbeiter von 27 auf 19 Jahre gesunken, ein Minus von knapp 30 %. In der Mainmetropole Frankfurt ging die Dauer von 18 Jahren (2013) auf 14 Jahre (2023) zurück, so Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin Kerstin Jerchel von der Stadtwerke Verkehrsgesellschaft Frankfurt (VGF).
Keine Patentrezepte
Könnten in dieser Situation gesellschaftliche Entwicklungen zu Hilfe kommen? So stände ein „Ersatzheer“ mit aktuell 2,61 Mio. Arbeitslosen zur Verfügung. Gerade die derzeit knapp 900.000 Langzeitarbeitslosen könnten mobilisiert werden. Die nackten Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Von 2018 bis 2023 hat sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Arbeitslosenquote nur marginal von 34,8 auf 34,4 % reduziert. Es fällt offenbar sehr schwer, diese Menschen für den Arbeitsmarkt zu reaktivieren. So hat man jüngst bei der Düsseldorfer Rheinbahn ein 14-Tage-Aktionsprogramm über TikTok gestartet, das sich vorwiegend an Langzeitarbeitslose richtete. Die Resonanz war zunächst einmal mit rund 800 Bewerbern enorm. Sie sollten in einem ersten Schritt einfache Tätigkeiten ausüben, z.B. älteren oder mobilitätseingeschränkten Menschen aus dem Bus zu helfen. Man hofft, die Langzeitarbeitslosen später für komplexere Felder wie Ticketkontrolle oder Fahrdienst zu gewinnen. Hintergrund des schrittweisen Vorgehens: die Menschen sachte an ein pünktliches und regelmäßiges Erscheinen auf der Arbeit zu gewinnen.
Man stellte – teilweise überraschend – fest, dass sich die Langzeitarbeitslosen in Punkten wie Krankenstand, Drogenkonsum oder Leistungsbereitschaft kaum von sonstigen Bewerbern unterschieden. Was allerdings auffiel: Die Zusammenarbeit mit den Arbeitsagenturen war je nach dortigem Ansprechpartner sehr kompliziert, und vor allem mangelte es den Rekrutierten an Zuverlässigkeit. Fazit: Ja, dieser Weg ist möglich, aber mit am Ende lediglich 40 Einstellungen bei der Rheinbahn sehr steinig. Dafür ist ein hoher Aufwand nötig – für Promotoren, zusätzliche Kommunikation im Unternehmen und nach außen sowie zusätzliche Personalressourcen für ein intensives Betreuungskonzept und vertrauensbildende Maßnahmen für die Aspiranten. Außerdem bedarf es einer starken Unterstützung durch Bildungsträger und vor allem die eigene Geschäftsführung.
Etliche Personallücken konnten bei vielen Verkehrsunternehmen in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten durch die Gewinnung ausländischer Mitarbeiter geschlossen werden. Ohne sie würde sich im deutschen ÖPNV wohl kaum noch etwas bewegen. Die Frage allerdings ist, wie viel Potenzial noch über diese Schiene erschlossen werden kann. Denn der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund unter dem Fahrpersonal ist in den vergangenen zehn Jahren bereits von 7 auf 33 % angestiegen, wie Marion Heber (Geschäftsleitung Personal, CHRO DB Region Bus) in Bonn berichtete.
Aspiranten aus dem Ausland anzuwerben, birgt aber noch andere Schwierigkeiten. Zum einen ist auch für sie ein hoher Betreuungsaufwand nötig: Neben meist erforderlichen Deutschkursen sollte ein Ansprechpartner im Verkehrsunternehmen vorhanden sein, der sich um administrative Dinge wie etwa die Wohnungssuche oder Behördengänge kümmert. Als Anreiz ist es zudem sinnvoll, den künftigen Mitarbeitern aus dem Ausland auch den Erwerb der Führerscheine Klassen B und D zu ermöglichen, sofern nicht vorhanden. Zum anderen sei Deutschland – vor allem in den ländlichen Regionen – für ausländische Mitarbeiter heute deutlich unattraktiver als noch vor einigen Jahren. „Der europäische Wettbewerb um Fachkräfte ist mittlerweile hoch“, konstatiert die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle. „Niemand kommt heute nach Deutschland, um zu schlechten Konditionen tätig sein zu müssen.“ In anderen Regionen Europas wie beispielsweise Skandinavien würde nicht nur besser gezahlt, sondern auch deutlich bessere Arbeitsbedingungen oder Alterszeitregelungen vorherrschen. Zudem besteht jederzeit die Gefahr, dass angeworbene ausländische Kräfte nach einiger Zeit beispielsweise im Fahrdienst in für sie attraktivere Branchen hierzulande wechseln.
Bislang gibt es zwei Möglichkeiten der Einreise für ausländische Bewerber. Erst nach einer Anerkennungsberatung, bei dem auch die (ausländische) Berufsqualifizierung geprüft wird, ist die Visabeantragung und dementsprechend die Einreise überhaupt möglich. Als Ergebnis erfolgt der Anerkennungsbescheid, der entweder die volle Gleichwertigkeit einer ausländischen Berufsqualifikation zur deutschen Ausbildung bescheinigt und somit das Visumverfahren sowie die Einreise als anerkannte Fachkraft einleitet (§ 18a AufenthG) oder die teilweise Gleichwertigkeit bei teilweise fehlenden Kenntnissen und Fertigkeiten feststellt (§ 16d Abs. 1+2 AufenthG). Dann kann ein Visum zur Anerkennung des Berufsabschlusses und die Einreise für Qualifizierung sowie Beschäftigung als teilanerkannte Fachkraft in die Wege geleitet werdem. Anschließend erfolgt eine zunächst befristete, im Erfolgsfall unbefristete Anpassungsqualifizierung.
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Der Gesetzgeber hat mittlerweile aber reagiert auf den erhöhten Bedarf ausländischer Mitarbeiter und ermöglicht künftig drei weitere Formen der Einreise. Ab 18. November 2023 wird es die Einreise für Anerkennungsverfahren und qualifizierte Beschäftigung, die sogenannte Anerkennungspartnerschaft, geben. Es folgen ab 1. März bzw. 1. Juni 2024 die Einreise zur qualifizierten Beschäftigung mit Berufserfahrung und die Einreise zur Arbeitsplatzsuche (Chancenkarte).
Stellenabbau und Tarifabsenkungen
Die fehlende Attraktivität des Berufsbildes Busfahrer beschränkt sich allerdings nicht nur auf potenzielle ausländische Kandidaten. Zu viel ist im ÖPNV gespart worden in den vergangenen 30 Jahren, als vor allem die Finanzierung der Deutschen Einheit und diverse Krisenlagen bewältigt werden mussten. So wurden von 1995 bis 2017 nach Angaben von Andreas Schackert (Foto rechts), Bundesfachgruppenleiter Busse und Bahnen bei ver.di, rund 18 % der Beschäftigten in den Verkehrsunternehmen abgebaut. Gleichzeitig bauten diese aber ihre Verkehrsleistungen um rund 25 % aus, was natürlich nicht spurlos am Personal vorbeigeht.
„Wir haben viele Jahre der Absenkungstarifverträge hinter uns“, beklagt Schackert. Und die Politik erhöhe weiter den Druck, etwa mit dem 2019 durch die Verkehrsministerkonferenz ausgesprochenen Ziel einer Verdopplung der ÖPNV-Leistungen. Eine Folge: Zwar besäßen heute ca. 240.000 Menschen in Deutschland einen Busführerschein. Aber nur 100.000 unter ihnen seien aktuell auch als Busführer beschäftigt. „Nicht die Kosten eines Busführerscheins sind offenbar das Problem, sondern die Arbeitsbedingungen etwa mit einem unattraktiven Schichtdienst“, betont der ver.di-Mann.
Mitarbeiter sind wichtig
Mehr und mehr wird somit augenscheinlich, dass der anstehende Umbau des ÖPNV in Deutschland nicht nur technische Fragen wie den Antriebswechsel oder neue Mobilitätsformen wie On-demand-Verkehre betrifft. Nicht umsonst lautete das Motto des 11. VDV-Personalkongresses in Bonn „Der Mensch im Mittelpunkt“. Verkehrsunternehmen sollten ihre Prozesse und Strukturen dahingehend analysieren, ob sie „eher betriebs- oder menschenzentriert“ sind, regt Petra Bönnemann von der Stabsstelle Diversity Management bei der Bogestra an. „Wir haben viele Jahre eines Restrukturierungskurses in den Verkehrsunternehmen hinter uns. Der Tenor war immer: ,Wir müssen sparen!‘ Dies muss erst raus aus den Köpfen“, pflichtet ihr Behle von ver.di bei. Ziel sei es, Budgets im ÖPNV umzuleiten und die Verkehrswende nicht mehr nur als Antriebswende zu sehen, sind auch Kirchherr von McKinsey und Schackert von ver.di überzeugt. „Dass die Mitarbeiter wichtig sind, muss Teil der Unternehmenskultur sein“, gab Geschäftsführerin Ruth Leyendecker (Foto links) von der VDV-Akademie den anwesenden Personalern bei der Bonner Konferenz mit auf den Weg. ■
Lesen Sie in der nächsten Ausgabe den 2. Teil unseres Berichts über den Bonner VDV-Personalkongress, in dem mögliche Lösungsansätze für den Personalmangel im ÖPNV analysiert werden.
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